Briefe an Daniel Kehlmann
Lieber Herr Kehlmann. Warum schreibe ich Ihnen?
Vielleicht sollte ich mir lieber jemanden suchen, der mir antwortet. Vielleicht sollte ich mir einen Autoren suchen, dessen Buch ich schon durchgelesen habe.Vielleicht sollte ich mir jemanden suchen, der weniger „Ruhm“voll ist. Haha. Haha .... ha..
Ich heiße Julia. Komme aus Berlin. Bin 16 Jahre alt.Wir haben heute im Deutschunterricht mit Ihrem Buch „Ruhm“ angefangen und was den Rest des Tages angeht, kann ich offen gestanden nicht viel erzählen, da ich nicht sonderlich viel aufgepasst habe. Außer in Latein. Da wurde mir gesagt, ich solle aufhören unter’m Tisch zu lesen. Was ich dann sogar gemacht habe, weil ich meinen Lateinlehrer sehr gerne mag. Aufgepasst habe ich trotzdem nicht.Lieber Herr Kehlmann, diese Email wird keinerlei literarisch oder philosophisch wichtige Fragen enthalten, dafür sind Sie nicht der Autor, der sie beantwortet und ich nicht die Schülerin, die sie stellt. Allerdings fand ich mich heute plötzlich in einer Seifenblase aus essentiellen Grundfragen wieder und da Sie zwar nicht der Grund aber der Ausschlag dafür waren, werde ich Sie jetzt daran teilhaben lassen.
Haben Sie manchmal Angst, dass Ihr Leben ein Buch ist, Herr Kehlmann?Ich stelle mir diese Frage sehr häufig. Nicht aus Angst, sondern aus Neugierde. Die Antwort spielt für mich ja keine Rolle. Ich lebe. So oder so. Fiktiv oder nicht.Es würde mich auch ehrlich gesagt nicht wundern, wenn es so wäre, da mein Leben durchaus Romanpotential hätte, nur hat sich der Autor noch nicht recht entschlossen für welches Genre. Thriller wohl eher weniger. Fantasy zu meiner großen Enttäuschung leider auch nicht.Denn wie sonst wollen Sie mir erklären, warum die Bücher, die ich im Unterricht lese und im Unterricht besprechen muss, ironischerweise
immer etwas mit meinem Leben zu tun haben? Und unser letzter Roman war Bernhard Schlinks der Vorleser, ja...Wie schafft mein Leben immer wieder Film-reife Ironie aufzuweisen?
Wie kommt es, dass man immer, wenn man sich entschließt wegzugehen, den aktuellen Lebensabschnitt zu beenden, (Internat im Ausland. Kein Selbstmord) und einfach alles hinter sich zu lassen und auch versucht langsam damit abzuschließen... Man es dann in den letzten Monaten irgendwie immer schafft jemanden kennenzulernen? Und für einen Moment scheint plötzlich alles gut zu sein. Die Grenze zur Perfektion. Der Vorgeschmack auf das Happy Ending, wenn Sie so wollen. Nur für ein paar Sekunden, bis alles zerbricht und man wieder ganz genau weiß, warum man weg wollte und den Flug damals gebucht hat-ohne Rückflug wohlgemerkt. Und ich frage mich, ob es denn wirklich besser werden wird? Oder ob ich das, was ich immerhin noch habe, undankbar wegwerfe.Die Kirschen aus Nachbars Garten in Anflug nehmen, nur weil man mit denen aus dem Einmachglas nicht mehr zufrieden ist? Immerhin habe ich überhaupt Kirschen, immerhin habe ich überhaupt was zu Essen, im Gegensatz zu anderen Leuten, aber dieser Gedanke verschwindet eh sofort wieder, denn es kümmert uns doch eigentlich nicht wirklich. Wieso sind die Klausuren, die man nach einem Wochenende voller Nutella und Netflixmarathons schreibt, die besten? Als ob das Schicksal einem aus Mitleid leise zuflüstert, hey, du schaffst das. Und als nächstes kommt dann wieder der nächste Schlag in die Fr... dann kommt plötzlich wieder ein völlig unvorbereitetes, ungünstiges und definitiv überforderndes Ereignis? Wenn mein Leben kein Buch ist, wie schafft es eine Gruppe von jungen Männern von allen Mädchen in Berlin, ausgerechnet die „undefiniertes-Verhältnis-Exfreundin“ ihres Kumpels und mit zur Studentenparty zu bringen? (Zu dieser der entsprechende Exfreund natürlich auch als Special Guest, als Überraschungseffekt erscheint.) Nehmen wir für einen Moment an, ich bin ein Charakter in einem Buch. Wäre ich die Hauptperson oder Sie? Ich sage ich. Sie sagen Sie. Ein Charakter aus einem Buch, das würde auf jeden Fall heißen, dass es für alles einen Grund gibt, einen Sinn und einen Zweck. Ein Warum.Also warum schreibe ich Ihnen, Herr Kehlmann? Während meine Mutter und meine Patentante in Rufweite sind. „Geht’s Dir gut?“„Ja“Das ist alles was zählt.
Immerhin, es geht mir nicht schlecht, das stimmt. Ich fühle mich auch nicht depressiv, lache, esse, schlafe, lerne also geht es mir gut, es ist keine Lüge. Wenn ich nicht lügen muss, wie komme ich dann auf die Idee, dass ein völlig fremder Autor, eines noch nicht von mir beendeten Buches, das richtige Ziel für meine Fragen ist?
Es geht tatsächlich auch eigentlich gar nicht um Sie, sondern um Sie als Autor. Beziehungsweise nein. Wenn ich ehrlich bin geht es auch nicht um Sie als Autor, außer, dass ich Ihr Buch „Ruhm“ schlichtweg fantastisch finde und wenn das der Grund für diesen Brief ist-im literarischen Sinne- kann ich den Autor ihres Lebens nur sehr deutlich tippen hören: “Er verbrachte den Abend damit Fanpost zu lesen (oder auch nicht zu lesen) und legte die besonders ruhmvollen in die Kiste zu den anderen Briefen.“Klingt das nach Ihnen? Oder nach mir? Oder nach jemand ganz anderen?
Warum schreibt derjenige das? Warum schreiben Sie? Warum schreibe ich? Warum schreiben Menschen generell? Selbst wenn es nur Tagebuch Notizen sind.Ist es unser menschliche Drang uns zu verewigen, aus der läppischen Arroganz irgendwer außer uns selbst würde sich dafür interessieren was in unseren Köpfen vorgeht? Wieso nehme ich mir die Zeit, die vielen, vielen Stunden für einen Roman, den letzten Endes sowieso nur meine Mutter (weil sie es musste), unsere Freunde (weil sie Mitleid haben) und Babysittingkinder (die sowieso alles cool finden, was von uns auch nur angefasst wurde) lesen?Langeweile?Hybris?Einsamkeit?Oder mehr?Ist es doch der unterbewusste Drang, sich auf eine so unethische Art und Weise seiner tieferen Erfahrungen und Gedanken auf Kosten anderer zu entledigen? In eine Welt zu fliehen, ja, sich eine eigene Welt zu erschaffen, die man selbst kontrollieren kann, da ja so offensichtlich jemand anderes das eigene kontrolliert. Vielleicht lebe ich in jedem meiner Charaktäre die schizophrenen Neigungen meines eigenen-zwischen Kritik und Lob, Liebe und Hass gespaltenen - Selbst aus. Ohne Rücksicht auf die Personen meiner Umgebung, die sich in den Spiegelbildern meiner Identität, selbst wiedererkennem. In einem Buch, das am Ende eh nur als Ebook in den unendlichen Weiten von Amazonien vor sich hin existiert?
Ich frage mich manchmal, ob das Buch meines eigenen Lebens Erfolg hätte. Oder jedenfalls mehr als das über das Leben, des 16-jährigen Mädchens, das ich erfunden habe. Man muss an sich glauben und das tue ich. Ich habe an meinen Roman geglaubt und tue es auch immer noch. Aber was ist wenn ich die einzige bin?
Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nur mit den typischen pubertären Teenagerfragen belästige, aber heute waren Sie der einzige Mensch, bei dem ich das Verlangen hatte ihm etwas zu erzählen. Nein. Bei dem ich das Gefühl hatte auf ein gewisses Interesse, eine limitierte Anteilnahme mit meinen Fragen und Gedanken zu stoßen. Und wahrscheinlich ist das "das Warum". Auf jeden Fall warum ich schreibe. Für ein paar Minuten, Stunden erzähle ich mir, dass mir jemand zuhört, an meinen Lippen hängt und die Geschichte- meine Geschichte gebannt mitverfolgt.
Ruhm ist das nicht. Auch nicht der Wunsch nach Ruhm. Der Grund für meine 9 vollständigen Tagebücher, sorgfältig mit mehr und mehr Rechtschreibfehlern bestückt, je länger man in der Zeit zurückgeht, der Grund für diesen Brief und meinen 376 Seiten langen Fantasyroman: ist der Wunsch nach dem Zuhören.
Der Wunsch nach einem offenen Ohr für meine Worte, nachdem ich den Ihrigen heute so gebannt gelauscht habe.
Danke
Lieber Herr Kehlmann,
Sie machen mir Angst mit Ihrem Kapitel über Tod, Trauer und Im Stich gelassen werden.Sie machen mir Angst mit dem Kapitel über die Fragen nach dem Sinn von Tod und Trauer, denen wir uns konfrontiert sehen.
Ich habe mich nach dem Sinn von „Im Osten“ gefragt und wahrscheinlich ist gerade das der Sinn-die Frage an sich ist der Sinn:Wie kann sowas passieren? Und dann- warum sollte jemand sowas lesen wollen?Langweilig.Und wir verdrängen das Kapitel und lassen es aus, wenn wir mit Freunden über das Buch reden. Was zählt sind doch die schönen Fragen, die Fragen nach dem Sinn und nicht nach dem Unsinn.
Ich habe immer gedacht, dass ich, wegen meiner eigenartigen Faszination für Krebs, einmal selbst eine Tumordiagnose kriegen würde. Das unumgängliche Ende, aus einer jugendlichen, unschuldigen und so verzweifelten Perspektive hatte für mich immer eine Schönheit, gerade weil es Fiktion war und mich daran erinnerte, das beste aus jedem Tag zu machen, zu lachen, zu riskieren, so zu leben, dass man nichts bereut.
Ich passe perfekt in das Schema einer 16 Jährigen Krebsdiagnostizierten, die vor ihrem Tod noch einen Roman geschrieben hat, damit auch wirklich die ganze Weltgeschichte mittrauert.
Es sagt sich so leicht „ich würde es nehmen, wenn jemand anderes dadurch gesund wird“. Aber das glaubt dir eh keiner. Das glaub ich mir nichtmal selbst, obwohl sich der Gedanke echt anfühlt.
Einmal war ich am Strand und bekam plötzlich starke Atemnot. Ich erinnere mich daran, wie eisig sich meine Lunge anfühlte und ich blickte auf den Horizont und dacht, ich will nicht sterben. Eine Wahl haben wir ja sowieso nicht.
Ich wollte Sie eigentlich fragen, ob die Hauptperson in „Der Ausweg“ nun Ralf Tanner oder Matthias Wagner ist. Meine Freundin glaubt Ralf, ich sage Matthias.Sie glaubt, dass er keine Lust mehr auf sein Leben hat und sich endlich befreit. Ich sage, dass Matthias jener Imitator ist, der sich manchmal selbst vergisst und glaubt- vielleicht sogar wünscht er sei Ralf Tanner, bis ihm erleichtert wieder die Wahrheit einfällt. In den Sommerferien wird sie operiert. Meine Freundin meine ich. Es ist ein schwieriger Eingriff, aber die Chancen stehen gut. Beziehungsweise ich weiß nicht wie die Chancen stehen, aber sie wird nicht sterben.
Sie wird nicht sterben.
Ich weiß nicht, ob der Satz aus einem tieferen Glaube, rationaler Nüchternheit oder immer wieder aus schlichtem Negieren heraus entsteht.
Vor ein paar Wochen rief mich eine andere Freundin an, ein Klassenkamerad hätte sich umgebracht. Aus dem nichts. Niemand hatte etwas geahnt. Ich nahm es zu Kenntnis und sie berichtete davon, als ob es ein Zeitungsartikel wäre. Schöne Worte folgten. Man sollte meinen es sei die Geschichte des Jungen gewesen, aber nein. Es war die Geschichte wie sich eine Schule, eine Klasse, ein paar Freunde wieder langsam erholten Aber so ist es doch immer?
Jamie Sullivan und Hazel Grace Lancaster wären auch lange nicht so interessant, wenn sie nicht ihre Freunde hätten, die mitleiden und mitleben. An der Geschichte teilhaben.Und wir identifizieren uns immer mit den Hauptpersonen. Wir wären doch immer die Hauptrollen in allen Romane und erfreuen uns daran, ja bewundern wie sie lieben und leiden, Fehler machen und dabei wunderbare philosophische Lehren erteilen.
Warum muss man dafür erst Krebs bekommen?Die beiden Romane wären doch nicht halb so erfolgreich gewesen, wenn es die Moral ohne die Geschichte gewesen wäre.Natürlich nicht.Es wären nur Floskeln gewesen.Nur Worte.Obwohl Worte doch mächtiger sind, wie man immer sagt.„Wenn ich dir ein Messer an den Hals drücke, dann erzähl mir mal wie mächtig deine Worte sind.“Aber niemand würde mir aus dem Nichts heraus ein Messer an den Hals drücken.Dazu gehört ein Grund.Eine Vergangenheit.Eine Geschichte.Worte.
Ich habe heute über’s Fluchen nachgedacht. Warum fluchen wir eigentlich? Also ich fühle mich nach dem Fluchen besser.Aber wie kommt es dazu?Schon als kleine Kinder lernen wir, dass Fluchen nicht angebracht ist, trotzdem lernen wir wiederum auch sie zu den angebrachten Situationen zu benutzen.
Ist es ein Reflex?Oder macht es die Situation tatsächlich ertragbarer.Ich merke, dass es mir besser geht, wenn ich meinen Geschwistern ein gehässiges Wort an den Kopf geworfen habe. Diese Sekunde der Stillem Ungläubigkeit und Verletztheit.Ich überlege gerade, ob das Macht ist? Sind Beleidigungen ein Ausdruck der Macht? Oder der Versuch sich zu bemächtigen?
Ich habe diesmal noch nicht mal einen Grund, den ich mir selbst erzählen kann, warum ich Ihnen schreibe.Das Kapitel „Antwort auf die Abtistin“ gibt nicht nämlich nicht wirklich Hoffnung darauf, dass dies je eine beidseitige Kommunikation werden könnte.
Lieber Herr Kehlmann,
Sie rauben einem mit Ihren Sätzen ja wirklich die Naive Ideologie der Kindheitsträume, ironischerweise an Leuten, mit denen sich dank Ihrer Geschichten tausende von Leuten beschäftigen-gegen ihre langweilige menschliche Natur.
Ihr Buch handelt von Identität.Im Theater haben wir uns mit Identitäten im Internet beschäftigt, Facebook, Twitter, Blogspot, Youtube überall präsentiert man sich anders. Aber es ist trotzdem immer noch Ich?„Identität definiert sich vom anderen her. Der andere ist es, der sich verschiedene Aspekte einer Person abonniert und beliebig zusammensetzt.“ So wie ich mir Ihre Identität anhand ein paar (mittlerweile schon etwas mehr, als zu Beginn dieses Briefes) Kapitel und wenigen Sätzen aus einem Interview irgendwo im Netz zusammensetze. Heißt das, dass ich gar keine Kontrolle über meine Identität habe, dass ich sowieso nur Opfer bin, der Werte und Erwartungen, die die heutige Gesellschaft mir in unterschiedlichen Kontexten aufpresst.
Ihr Buch handelt von Identität.Oder von Leuten, die ihre Identität in mehr oder weniger radikalen Art und Weisen verändern. Um eine Veränderung festzustellen, braucht es eine Differenz zwischen einer Anfangs und einer Endfassung eines x-beliebigem Objekts. Wenn ich also Veränderung meiner Identität feststellen möchte, muss ich es mit einer Definition von zwei Stadien meines Ich’s vergleichen. Das unumgängliche steht immer im Raum, wenn es um den Abschied geht, den ich in zwei Monaten mehr oder weniger schmerzhaft vollziehen werden muss. „Du kommst ja zurück.“
„Ja“, antworte ich. Denn ich werde Berlin nicht für immer Farewell sagen.Andererseits werde ich auch nicht wieder zurückkommen. Beziehungsweise welches meiner Ich’s erwartet Ihr denn, wieder zurück?
Die soziale Streberin in der Schule, die alberne Chorfreundin, die erwachsene Schwester?Was ist wenn eine Version von mir zurückkommt, die es schon gab, die Ihr aber nur nie kennengelernt habt. Und wie könnt Ihr Euch sicher sein, dass die Person, die ihr dann wiederseht, wirklich so ist, zu dem sie über die zwei Jahre in Singapur geworden ist? Denn auch Ihr werdet Euch verändern, ob Ihr’s merkt oder nicht und in zwei Jahren werden wir feststellen, ob die neuen Identitäten unseres Jetzigen Ich’s ebensogut miteinander klarkommen werden wie jetzt. Oder auch nicht. Vielleicht bleibt es genau so, wie es jetzt ist. Peter ist dann mit Anna zusammen statt mit Maria. „Großer Skandal“, werdet ihr mir erklären und kichern. Nach dem wir uns dann ein zwei Stunden mehr oder weniger oberflächlich unterhalten haben, ihr die ein oder anderen Details von süßen Typen aus der Stufe über mir erfahren habt, geht ihr nach Hause und wundert Euch. „Julia ist ja ganz langweilig geworden. Gar nicht mehr so wie früher. Ganz unlustig.“
Ihr werdet rumerzählen, dass ich nicht mehr so viel rede und lache und sogar noch erwachsener geworden bin, als ich es eh schon war. Meine Identität weitergeben, damit die anderen, denen ich begegne, mich gar nicht mehr ansprechen müssen.Und irgendwann werdet ihr jemanden treffen, der nur das kennt, was meine Freunde in Singapur über mich gesagt haben. Und Ihr fragt Euch, wen ihr da eigentlich wiedergesehen habt.Vielleicht wird es auch andersherum.Ich komme zurück, in der Erwartung, dass alles so ist, wie früher und erkenne selbst meine Freunde, die mir fremd geworden sind, nicht wieder.Oder wir tun so, als wären keine zwei Jahre vergangen und machen dann genau da weiter wo wir aufgehört haben.So wie es mein Exfreund sich erhofft. So direkt hat er es nicht ausgesprochen, aber ich las es in jeden von seinen Handlungen. Aber warum bin ich dann überhaupt weggegangen?
Lieber Herr Kehlmann,
ich verstehe Ihr Buch nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich normalerweise nicht diese Art von Büchern lese. Vielleicht fehlt mir das literarische Verständnis. Vielleicht soll Ihr Buch ja gar nicht verstanden werden, etwa so wie es unser Theaterstück über Internet, Identität, Tod und Roboter war. Aber ich verstehe Ihr Buch nicht oder auf jeden Fall nicht das Ende.
Wir sind alle Geschichten. Nur in Romanen gibt es grandiose Zusammenhänge, einen roten Faden, der durch die Geschichte führt. Aber im echten Leben gibt es das nicht. Es gibt Perioden, da passiert nichts. „Ein Herbst und ein Winter vergingen bis sie endlich den Brief erhielt, dass sie zum Auswahlwochenende nach Bad Homburg eingeladen ist.“ Ein Satz eines Autors und sechs langweilige, unbefriedigende Monate meines Lebens voller schrecklicher Deutschstunden und leeren Wochen.
Allerdings, lieber Herr Kehlmann, bevorzuge ich meine aktuelle Situation, der nichtssagenden Monate in meinem Leben, wo ich bewusstlos durch die Wochen gelebt habe und wohl Sachen gemacht habe, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere.
Da ist mir dieses verworrene Chaos aus Tränen des Abschieds, des Frusts und des Lachens, Schule, Klausuren, Theater- und Chorproben, verzweifelte Emails an alle Bibliotheken Berlins, , neurotische Spam-emails, Posts und Nachrichten an meine Freunde, Momente der Einsicht, der Erinnerungen, der Erwartung und des Zweifels an der festen und fatalen Entscheidung.
So wie Sie es hassen gefragt zu werden, wo Sie ihre Ideen hernehmen, hasse ich es gefragt zu werden, ob ich mich auf Singapur freue, wie ich darauf gekommen bin und warum ich ein Buch geschrieben habe. Ich habe Ihr Buch übrigens während des Latein, Physiks, Deutsch und Bio Unterrichts, sowie in meinem Bett gelesen.
Es ist spät, ich habe Ihr Buch beendet und mich entschlossen diesen Brief tatsächlich abzuschicken.Das Leben ist lebenswert, Herr Kehlmann.Ich bin froh meine Geschichten schreiben zu dürfen.
Danke, dass ich an Ihren teilhaben durfte.